Henrike Naumann
Ruinenwert
Die Arbeit Ruinenwert zeigt ein Architekturmodell des Bundeskanzler*innenamts nach seiner fast vollständigen Zerstörung. Das Modell der Ruine wird in einer von zwei Neonröhren ausgeleuchteten Vitrine präsentiert, wie sie in den Westberliner Fußgängerzonen der 1950er-Jahre zu finden waren. Die Vitrine, die nahe der Verkehrskreuzung des Hansaplatzes aufgestellt werden soll, ist in demselben metall-grünen Farbton gestrichen wie die Innenverkleidung des Kanzleramts: in einem Autolack-Ton von Porsche (LM6Y/33N).
Der Begriff "Ruinenwert" geht auf den Architekten Albert Speer zurück, der der den Ruinenwert zum Prinzip seiner nationalsozialistischen Bauplanung erhob: Ähnlich wie die Bauwerke des antiken Roms, die heute als Zeugnisse einstiger Macht funktionieren, sollten auch die monumentalen Bauwerke der NS-Zeit ihren Zeitgeist an die Nachwelt überliefern, auch wenn sie zu Ruinen zerfallen wären.
Durch das Ausstellen des Kanzler*innenamts – erbaut im Stil der Postmoderne, aus Glasfronten und Sichtbeton – als Ruine wird nicht nur das Scheitern der westlichen Demokratie ins Bild gesetzt, sondern das Konzept des „Ruinenwerts“ ironisch aufgegriffen, indem genau jene rostende Ruine ausgestellt wird, die der „Theorie vom Ruinenwert“ zufolge keine heroischen Werte zu vermitteln vermag.
Nachdem das Hansaviertel im Zweiten Weltkrieg nahezu gänzlich zerstört wurde, bot es einen Realisierungsraum für Visionen eines städtebaulichen und gesellschaftlichen Neubeginns – und zugleich Raum für einen Gegenentwurf zu den sozialistischen Bauunternehmungen in der Stalinallee im Ostteil der Stadt. Ernst Reuter gab in einer Rede aus dem Jahre 1949 die Leitlinie für die Neukonzeption des Viertels vor: „Berlin muss ein Schaufenster der Freiheit, aber auch ein Schaufenster des wirtschaftlichen Wohlstands werden.“
Das Bundeskanzler*innenamt ist eines der größten Regierungshauptquartier der Welt. Gelegen ist es im „Band des Bundes“ als Symbol des vereinigten Deutschlands: ein Gegenentwurf zur Nord-Süd-Achse, die Albert Speer als Herzstück der „Welthauptstadt Germania“ vorgesehen hatte. Da Hitler seine Reichsarchitektur ebenfalls auf dem Spreebogen geplant hatte, steht das heutige Berliner Bundeskanzleramt dort, wo vormals der Übergang vom „Führerpalast“ zur „Großen Halle“ vorgesehen war. Ausgehend von diesen spezifischen Überlagerungen städtebaulicher Visionen ist das Bundeskanzler*innenamt als Ruine ein Bild aus der Zukunft – nach der gescheiterten Demokratie in Deutschland. Die Symbolik der sich kreuzenden Geschichtsschreibungen wird durch die Positionierung der Vitrine auf einer der öffentlichen Flächen in der Nähe der Verkehrskreuzung verstärkt. Der Hansaplatz wird erneut zum Austragungsort politischer Perspektivierung.